18. April 1906: Ein Erdbeben zerstört San Francisco
The Big One
»Alles im Raum drehte sich. Der Kronleuchter versuchte, die Decke zu berühren und die Stühle verfolgten sich gegenseitig. Crash-crash-crash! Es war eine grauenhafte Szene! Überall fielen die Wände um und Wolken von gelbem Staub stiegen empor. Mein Gott, ich dachte, es würde niemals enden!«
So berichtete der weltberühmte Tenor Enrico Caruso, der am Abend zuvor im Opernhaus gesungen hatte, von dem Erdbeben, das am frühen Morgen des 18. April 1906 die amerikanische Großstadt San Francisco zerstörte. Es gelang Caruso, die Stadt unbeschadet zu verlassen. Danach schwor er, nie wieder einen Fuß in diese Stadt zu setzen – ein Schwur, den er zeitlebens gehalten hat.
47 Sekunden dauerte der Alptraum, aber die wahre Katastrophe begann erst danach: Innerhalb weniger Minuten brachen überall Brände aus, ausgelöst durch zerstörte Gasleitungen, Öfen und Kamine. Zwei Stunden nach dem Beben, kurz nach 7 Uhr morgens, waren die Feuer außer Kontrolle. Ganze Stadtteile mit Holzhäusern brannten wie Zunder. Tausende Menschen drängten sich auf den Straßen Richtung Ferry Building, um aus der Stadt zu gelangen. Ein Augenzeuge berichtet: »Es wurde schwierig, sich durch die verstopften Straßen und den dichten Verkehr hindurchzubewegen … Alles was Räder hatte wurde benutzt.«
Die Feuerwehren konnten kaum helfen, denn die Wasserversorgung war zerstört. Es gab zwar noch Zisternen aus der Goldgräberzeit, aber auf den Notfallplänen waren sie nicht eingezeichnet. Und dann wurden etliche Brände auch noch vorsätzlich gelegt, da viele Versicherungspolicen nur Feuer-, aber keine Erdbebenschäden deckten. Sehr schnell griff die Armee ein: Mit Sprengungen sollten Brandschneisen gelegt werden – aber Unkenntnis, Unfähigkeit und der Mangel an geeignetem Sprengstoff entfachten oft weitere Feuer und verschlimmerten das Chaos noch.
Es brannte insgesamt drei Tage lang. Das Feuer zerstörte mehr als 490 Häuserblocks mit 30 Schulen, 80 Kirchen und 250.000 Wohnungen. 225.000 Menschen wurden verletzt, mindestens 3000 Personen getötet. Die genaue Zahl wird sich nie feststellen lassen, weil auch die Meldeakten der Stadt verbrannt sind. Der Sachschaden betrug 524 Mio. Dollar nach damaligem Wert, das entspräche aktuell über 10 Milliarden Dollar.
Heute weiß man, dass das Beben in San Francisco von 1906 kein Zufall war. Die Stadt liegt direkt auf einer geologischen Störung, der San-Andreas-Verwerfung. Hier verschieben sich zwei Kontinentalplatten gegeneinander, die Nordamerikanische und die Pazifische – pro Jahr etwa 6 cm. Dabei bauen sich mechanische Spannungen in der Erdkruste auf, die sich als Erdbeben entladen. Soweit man es rekonstruieren kann, ereignen sich hier im Abstand von höchsten 150 Jahren schwere Beben – ein neues Großbeben ist also überfällig.
Schon 1989 gab es rund 90 km südlich von San Francisco ein Erdbeben der Stärke 6,9 mit 63 Toten und fast 4000 Verletzten und im Oktober 2016 unter dem Saltonsee, dem größten See Kaliforniens, eine Folge vieler kleinerer Beben. Obwohl deren Reichweite nur gering war, macht ihre Häufung die Seismologen nervös. Seit der Installation der ersten Erdbebensensoren 1932 gab es erst zweimal vergleichbare Aktivitäten. Die Experten befürchten eine Art Dominoeffekt, an dessen Ende »The Big One« stehen könnte. Dieses Riesenbeben könnte der US-Katastrophenbehörde Fema zufolge noch stärker ausfallen als 1906, bis zu 13.000 Menschen das Leben kosten und bis zu eine Million Menschen obdachlos machen.
Mit aufwendig inszenierten, jährlich wiederholten Katastrophenübungen wird versucht, das Verhalten bei einem Beben und die Evakuierung der Häuser zu proben, um die Bevölkerung auf den Ernstfall vorzubereiten. Doch die Menschen sind eher uninteressiert. Dabei sind die Experten in einem einig: Es ist keine Frage, ob das Beben kommt, sondern nur wann.
Carsten Heinisch
geschrieben für »SWR2 Zeitwort« 2017
Das erste Bild stammt von dem lokalen Fotografen Arnold Genthe, Quelle: Wikimedia.
Das Panoramabild von George R. Lawrence ist gemeinfrei, die digitale Version stammt aus der Library of Congress.