29. April 1899: Das erste Auto fährt schneller als 100 km/h
Niemals zufrieden
1886 baute Carl Benz mit seinem Patent-Motorwagen das erste Auto überhaupt. Der Wagen erreichte eine Höchstgeschwindigkeit von 16 km/h. Aber schon kurze Zeit darauf gab es tollkühne Männer, die auf Rennfahrten das Tempo immer höher schraubten. Den ersten dokumentierten Geschwindigkeitsrekord stellte Ende 1898 der französische Adlige und Rennfahrer Gaston Chasseloup-Laubat auf: Er erreichte knapp 63 Kilometer pro Stunde.
Bereits einen Monat später wurde dieser Rekord von dem belgischen Rennfahrer und Automobilkonstrukteur Camille Jenatzy gebrochen. In den nächsten Wochen und Monaten lieferten sich Chasseloup-Laubaut und Jenatzy mit immer neuen Konstruktionen einen erbitterten Wettstreit um den Geschwindigkeitsrekord. Im März wurde einmal sogar der Rekord des einen noch am selben Tag vom anderen überboten. In die Geschichte eingegangen ist Jenatzy: Sein Wagen namens La Jamais Contente – zu Deutsch »Die niemals Zufriedene« – war das erste Straßenfahrzeug, das schneller als 100 km/h fuhr. Auf der Rekordfahrt in Achères nordwestlich von Paris am 29. April 1899 legte der Wagen die einen Kilometer lange Messstrecke in 34 Sekunden zurück. Daraus lässt sich eine Geschwindigkeit von 105,8 Kilometer pro Stunde berechnen.
Aber war das überhaupt ein Auto? Was man auf den alten Fotos erkennt, erinnert eher an einen Torpedo auf einem unförmigen Fahrgestell, und der Fahrer scheint mehr auf als in dem Gefährt zu sitzen. Es gibt keinen Kühler und keinen Auspuff, aber das braucht der Wagen auch nicht. Die Jamais Contente war nämlich, genau wie der Wagen seines Konkurrenten, ein Elektroauto.
Der Elektroantrieb war damals, um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert, die vernünftigste Wahl für ein Automobil. Der Wirkungsgrad eines Elektromotors ist erheblich höher als der von Verbrennungsmotoren, es ist kein Getriebe notwendig, die Bedienung ist einfach und sogar von technischen Laien oder gar Frauen zu leisten, der Wagen fährt leise, ohne lästige Vibration und stinkt nicht. Wie anders dagegen die Konkurrenz: Die unförmigen, schweren Dampfwagen mussten Stunden vor einer Ausfahrt vom Chauffeur vorgeheizt werden, Wagen mit Benzinmotor waren extrem kompliziert, pannenanfällig und schwierig zu starten. Kein Wunder also, dass um 1900 etwa in New York die Hälfte der Autos einen Elektromotor hatte, drei Zehntel waren Dampfwagen, der Rest hatte alternative Antriebe mit einem Pressluftspeicher oder einem Verbrennungsmotor.
Es gab (und gibt) nur einen Grund gegen Elektroautos: Die Batterien sind schwer und speichern verhältnismäßig wenig Energie, sodass die Reichweite eines Elektroautos beschränkt ist. Dieser Grund spielte damals aber keine Rolle, denn auf den unebenen Landstraßen mochte man sich Fahrten über größere Entfernungen ohnehin nicht antun. Und für Fernreisen gab es ja auch die ungleich bequemere Eisenbahn.
Erst viel später gewann das Reichweitenargument an Bedeutung. Da war aber schon eine komplette Infrastruktur für Fahrzeuge mit Verbrennungsmotor aufgebaut worden, mit immer neuen Straßen, mit Tankmöglichkeiten noch im entlegensten Winkel, mit Pannendienst und Werkstätten, noch später auch mit Autobahnen und dem »autogerechten« Ausbau der Innenstädte. Eine vergleichbare, speziell für Elektrofahrzeuge ausgerichtete Infrastruktur fehlt bis heute, trotz aller Programme zum Aufbau eines flächendeckenden Ladenetzes.
Jenatzy übrigens blieb nach seiner Rekordfahrt den Elektrowagen nicht mehr lange treu. 1903 gab er die Fabrikation von Elektroautos auf und wechselte als Rennfahrer zu Mercedes, obwohl ihm eine Zigeunerin geweissagt hatte, er werde in einem Mercedes den Tod finden. Wegen seines roten Barts und einem verwegenen Fahrstil wurde er rasch als der »Rote Teufel« bekannt. Nach anfänglichen Erfolgen bei Langstreckenrennen verlegte er sich dann aber wieder auf Rekordfahrten. Mit einem Mercedes erreichte er 1909 als Erster die Marke von 200 km/h.
1913 erfüllte sich die Weissagung: Jenatzy wurde bei einem Jagdunfall angeschossen und verblutete auf der Fahrt ins Krankenhaus – in einem Mercedes.
Carsten Heinisch
geschrieben für »Zeitwort« (SWR2) 2009
Bild gemeinfrei, Quelle: Wikimedia Commons