20. Februar 1883: In Paris glückt die erste Identifizierung eines Straftäters mithilfe der »Bertillonage«
Auf der Spur der Täter
Der Pariser Alphonse Bertillon war menschenscheu, starrsinnig und galt schon in jungen Jahren als Pedant. Aber dank der Fürsprache seines Vaters – einem angesehenen Arzt und Vizepräsident der Pariser Anthropologischen Gesellschaft – wurde er mit Mitte 20 als Hilfsschreiber bei der Pariser Polizeipräfektur angestellt.
Seine Hauptaufgabe dort war es, wortreiche Beschreibungen von Straffälligen auf Karteikarten zu übertragen. Bei dieser stupiden Tätigkeit erinnerte sich der junge Mann an die anthropologischen Arbeiten seines Vaters, las weitere Bücher zum Thema und kam zu der Überzeugung, dass sich die Körpermaße eines Menschen im Erwachsenenalter nicht mehr ändern und dass es keine zwei Menschen mit den gleichen Maßen gibt.
Auf dieser Basis entwickelte Bertillon in den Jahren 1879 bis 1880 das erste geschlossene System zur Personenidentifizierung. Er erprobte sein Verfahren an den Untersuchungshäftlingen der Pariser Polizei, ohne jedoch Anerkennung seiner Vorgesetzten zu finden. Der Polizeipräfekt drohte ihm sogar mit fristloser Kündigung, falls er ihn noch einmal mit seinen Ideen belästigen sollte. Aber der neue Präfekt gestattete Bertillon ab November 1882 einen Testlauf über drei Monate.
Mit zwei Gehilfen erstellte Bertillon in dieser Zeit rund 1800 Karteikarten von Untersuchungshäftlingen. Sie wurden zunächst auf einem speziellen Drehstuhl frontal und im Profil fotografiert. Im zweiten Schritt, dem „Portrait parlé“, wurde die Form von Nase, Ohren, Augen usw. in standardisierter Weise beschrieben. Dann wurden die Körpermaße genommen, insgesamt elf Stück – neben der Körperlänge z. B. die Armspannweite, die Kopflänge und -breite, die Länge und Breite des rechten Ohres oder die Länge des linken Mittelfingers. Eigens entwickelte Spezialgeräte sollten die Messungen erleichtern und standardisieren. Zum Abschluss folgte das „anthropometrische Signalement“. Dabei wurden alle aufgenommenen Maße in Ziffernfolgen kodiert, die dann dazu dienten, die Karteikarten zu sortieren. Für eine spätere Ausbaustufe des Systems war vorgesehen, diese Ziffern und damit Informationen innerhalb des Behördenapparates zu sammeln, auszutauschen und zu vergleichen.
Kurz vor Abschluss des Praxisversuchs, am 20. Februar 1883, gelang Bertillon, was seine Kritiker für unmöglich gehalten hatten: die Identifizierung eines rückfälligen Straftäters auf Basis seiner Körpermaße. Nach weiteren Erfolgen führte die Polizei in Frankreich, Deutschland, in den USA und Großbritannien das neue System als Standard ein.
Bertillon profitierte mehrfach davon: Er wurde zum Leiter des polizeilichen Erkennungsdienstes von Paris befördert, er erhielt das Rote Band der Ehrenlegion, und sein Verfahren hieß ihm zu Ehren „Bertillonage“.
Aber die polizeilichen Praktiker waren alles andere als begeistert. Die Bertillonage war sehr arbeitsaufwendig, sehr komplex und damit sehr fehleranfällig. Immerhin setzten die Praktiker durch, dass auf den Karteikarten neben den Fotos der Person auch die Fingerabdrücke erfasst wurden – gegen den ausdrücklichen Widerstand von Bertillon. Für ihn war die Daktyloskopie, also das Arbeiten mit Fingerabdrücken, ungenau und unsauber. Auch dass Bertillon selbst 1902 einen Mörder anhand seiner Fingerabdrücke identifizieren konnte, stimmte ihn nicht um. Er blieb bei seiner Ablehnung und sprach nicht mehr von dem Fall.
Das Ende der Bertillonage kam mit dem spektakulären Diebstahl der Mona Lisa aus dem Louvre im Jahre 1911: Der Täter hatte sowohl auf einer Glasscheibe als auch auf einer Türklinke seine Fingerabdrücke hinterlassen. Wie sich bei Verhaftung des Diebes 1913 herausstellte, waren die Abdrücke bereits seit 1909 registriert, aber in den Tausenden nach Körpermaßen sortierten Karteikästen nicht gefunden worden. Genauso schnell, wie die Bertillonage zwei Jahrzehnte zuvor in vielen Ländern eingeführt worden war, schwenkte die Polizei nun um auf die leistungsfähigere Daktyloskopie.
Carsten Heinisch
geschrieben für SWR Zeitwort 2017
Die Abbildungen sind gemeinfrei.