30. März 1873: Bayern und Österreich-Ungarn schließen einen Staatsvertrag zum Bau eines Bahnhofs genau auf der Grenze

Großer Bahnhof

 

Bahnhof Bayerisch Eisenstein 1880, kurz nach der Fertigstellung (in der Bildmitte, inmitten der weitläufigen Betriebsanlagen). Die Grenze verläuft durch die niedrige Empfangshalle, die die beiden größeren Bahnhofsteile (vorne: Bayern, hinten: Böhmen) verbindet.

Was für eine Kommune heute das schnelle Internet ist oder die Autobahnabfahrt, das war vor eineinhalb Jahrhunderten die Bahnstation: Sie bedeutete den Anschluss an die weite Welt. Wen wundert es, dass weitblickende Stadtherren sich um eine Bahnstation fast rissen.

Auch in Bayern wuchs das Bahnnetz rapide. Nur im Osten des Landes, im schwierig zu erschließenden Bayerischen Wald, gab es keine Strecken – zum Leidwesen der Bayerwaldgemeinden.

Die Initiative ging dann von der böhmischen Seite aus: Von Pilsen aus sollte eine Bahnlinie an die bayerische Grenze weitergeführt werden. Deren Verlängerung nach München und Prag hätte eine attraktive Hauptstadtverbindung bedeutet. Ein Staatsvertrag vom 30. März 1873 besiegelte das Vorhaben:

Seine Majestät der Kaiser von Österreich, König von Böhmen u.s.f. und Apostolischer König von Ungarn und Seine Majestät der König von Bayern, von dem Wunsche geleitet, weitere Verbindungen der beiderseitigen Eisenbahnen zu bewerkstelligen und die desfallsigen Verhältnisse vertragsgemäß zu regeln und festzustellen, haben zu diesem Zwecke…

Der verschwurbelten Präambel folgten dann kenntnisreiche Festlegungen und erstaunlich weitsichtige Planungen: So wurde die Strecke zunächst zwar nur eingleisig gebaut, doch sollten alle Brücken breit genug sein, dass man auch ein zweites Gleis bauen könne. Doch oft verlor man sich im detaillierten Klein-klein – bis hin zu einer Bestimmung, die privaten Bahngesellschaften sollten den Zollbehörden, den Post-, Telegrafen- und Polizeiämtern die »von der beteiligten Regierung als erforderlich anerkannten Localitäten« unentgeltlich zur Verfügung stellen.

Und eine Besonderheit vereinbarten die Unterhändler, die es kein zweites Mal in Europa gibt: Genau zwischen dem böhmischen Marktflecken Eisenstein (heute Železná Ruda) und dem direkt daneben gelegenen Kirchdorf Bayerisch Eisenstein sollte ein Bahnhof errichtet werden, und zwar

in der Weise angelegt, daß derselbe mit seiner Mitte die Gränzlinie berührt, die eine Hälfte in nordöstlicher Richtung auf österreichisches Gebiet und die andere Hälfte in südwestlicher Richtung auf bayerisches Gebiet zu liegen kommt.

Der Bahnhof Eisenstein wurde das größte Bauvorhaben der ganzen Strecke: Das 140 Meter lange Gebäude enthielt in zwei symmetrischen Flügeln zwei repräsentative Wartesäle, zwei Bahnhofslokale, zwei Fahrdienstleitungen usw. Genau durch die zentrale Empfangshalle verlief die Staatsgrenze. Außerdem bauten die Bayern noch eine Lokremise, eine Reparaturwerkstatt, eine Zoll- und Güterhalle, eine Wagenhalle, eine Gasfabrik zur Beleuchtung der Anlagen, drei mehrgeschossige Wohngebäude für die Beamten und zwei kleinere Häuser für die Weichenwärter. Und auf österreichischer Seite entstand das gleiche noch einmal.

Die »Glasarche« vor der Eingangshalle des Grenzbahnhofs (Sommer 2007). Die Kunstaktion sollte an die Zerbrechlichkeit des Ökosystems Bayerischer Wald/Böhmerwald gemahnen. – Die Steine deuten den Grenzverlauf an, den man auch der unterschiedlichen Pflasterung erkennen kann (links tschechisch, rechts deutsch).

Der Bau von Bahnlinie und Bahnhof zog sich hin. Erst 1878 ging der Bahnhof in Betrieb. Aus den hochfliegenden Plänen einer schnellen Verbindung zwischen Prag und München wurde jedoch nichts, denn wegen der engen Kurven und starken Steigungen konnte man nicht schnell fahren, und so erlangte die Strecke nie die ihr zugedachte Bedeutung; bis heute ist sie noch immer eingleisig und nicht elektrifiziert. Durchgehende Züge gab es auch nie, selbst nicht 1938 nach dem Anschluss des Sudetenlands an das Deutsche Reich.

Nach dem Krieg wurden der Bahnhof verrammelt, die Grenze gesichert, die Gleise unterbrochen. Zur Zeit des Eisernen Vorhangs war hier die Welt zu Ende. Die Samtene Revolution in der CSSR beendete den Dornröschenschlaf: 1991 wurde der Bahnhof feierlich wiedereröffnet. Der Bürgermeister sprach vom »Tag des Jahrhunderts für Bayerisch Eisenstein«, Kanzler Kohl freute sich, dass Deutsche, Tschechen und Slowaken im Herzen Europas endlich wieder zusammenrückten.

Heute, ein Vierteljahrhundert später, gibt es sogar grenzüberschreitende Züge mit großer Bedeutung für das Verkehrskonzept des deutsch-tschechischen Naturparks Bayerischer Wald/Böhmerwald. Und die zweistaatliche Empfangshalle birgt eine gemeinsame Ausstellung zum Naturschutz.

 
Carsten Heinisch
geschrieben für »Zeitwort« (SWR2) 2006, aktualisiert März 2017
Das historische Foto ist gemeinfrei, Quelle: Wikipedia. Das Bild der Glasarche ist ein eigenes Foto.