16. Juni 1902: Gottlob Frege erhält einen Brief
Überrascht und bestürzt
Der Mathematikprofessor Gottlob Frege in Jena befasste sich seit den 1870er-Jahren mit der Logik und entwickelte als Erster eine streng formale Sprache für mathematische Beweise, heute eine wesentliche Grundlage für Computertechnik und Informatik.
Freges großes Projekt war es, die komplette Mathematik ausgehend von einigen wenigen Grundwahrheiten logisch zu beweisen. Der erste Band seines Buchs dazu, die »Grundgesetze der Arithmetik«, erschien 1893, in den Jahren danach schrieb Frege an dem zweiten. In Fachkreisen wurde das Buch sehr geschätzt:
»Sehr geehrter Herr College«, schreibt der britische Mathematiker und Philosoph Bertrand Russell – auf deutsch! – in einem berühmten Brief vom 16. Juni 1902 und kommt nach kurzer Einleitung zur Sache: »Ich finde mich in allen Hauptsachen mit Ihnen in vollem Einklang, besonders in der Verwerfung jedes psychologischen Moments von der Logik.« Noch ein bisschen Lob, dann kommt der Hammer: »Nur in einem Punkt ist mir eine Schwierigkeit begegnet. Sie behaupten, es könne auch die Funktion das unbestimmte Element bilden. Dies habe ich früher geglaubt, jedoch jetzt scheint mir diese Aussage zweifelhaft, wegen des folgenden Widerspruchs.«
Russell meint damit, dass sich in Freges vermeintlich streng logische Mathematikwelt Objekte hineinschummeln können, die in sich widersprüchlich sind und die es deswegen dort auf keinen Fall geben dürfte. Wir verzichten hier auf den komplizierten Wortlaut von Russels Begründung; er selbst hat aber später ein anschauliches Beispiel für eine solche in sich widersprüchliche Definition geliefert: »Man kann einen Barbier definieren als einen, der alle diejenigen und nur diejenigen rasiert, die sich nicht selbst rasieren. Die Frage ist: Rasiert der Barbier sich selbst?« Probieren wir beide mögliche Antworten aus:
»Nein, der Barbier rasiert sich nicht selbst.« Laut Definition gehört er dann aber zu dem Personenkreis, der doch vom Barbier rasiert wird. Das ist unlogisch, aber noch kein Problem. Man hat nur gezeigt, dass die Antwort »der Barbier rasiert sich nicht selbst« falsch ist.
Die Alternative: »Ja, der Barbier rasiert sich selbst.« Leute, die sich selbst rasieren, gehören nach der Definition aber gerade nicht zu dem Personenkreis, der vom Barbier rasiert wird. Diese Antwort ist also auch falsch. Aus der Definition ergibt sich also das Paradoxon, dass der Barbier sich erstens selbst rasiert und zweitens nicht selbst rasiert.
Was sich hier nach einer Lachnummer anhört, stürzte Frege in Verzweiflung, denn das Barbier-Paradoxon zeigt, dass auch in Freges Formalismus widersprüchliche und unlogische Definitionen möglich sind. In seiner Antwort auf Russells Brief schreibt Frege: »Ihre Entdeckung des Widerspruchs hat mich auf’s Höchste überrascht und, fast möchte ich sagen, bestürzt, weil dadurch der Grund, auf dem ich die Arithmetik sich aufzubauen dachte, in’s Wanken geräth. … Jedenfalls ist Ihre Entdeckung sehr merkwürdig und wird vielleicht einen grossen Fortschritt in der Logik zur Folge haben, so unerwünscht sie auf den ersten Blick auch scheint.«
Unerwünscht, das dürfte Freges Stimmung treffen, denn der Druck des zweiten Bandes von seinem Buch stand kurz vor dem Abschluss. Unmöglich, das Buch noch zu ändern. Frege reagierte mit einem kurzen Nachwort: »Einem wissenschaftlichen Schriftsteller kann kaum etwas Unerwünschteres begegnen, als daß ihm nach Vollendung einer Arbeit eine der Grundlagen seines Baues erschüttert wird. In diese Lage wurde ich durch einen Brief des Herrn Bertrand Russell versetzt, als der Druck dieses Bandes sich seinem Ende näherte.« Nach Erscheinen des Buchs wandte Frege sich von diesem Thema ab und – nach jahrelanger Schaffenskrise – einem anderen Arbeitsgebiet zu. Eine gute Entscheidung, denn heute weiß man es, dass sein Programm – die Mathematik vollständig und widerspruchsfrei aus einigen wenigen Grundaussagen herzuleiten – prinzipiell unmöglich ist.
Carsten Heinisch
geschrieben für »Zeitwort« (SWR2) 2011
Die Porträts von Frege und Russell sind gemeinfrei, Quelle: Wikimedia.
Das Foto des Barbiers stammt von Dame Eda (Quelle: fotocommunity)