5. Dezember 1854: Ernst Litfaß stellt Anschlagsäulen auf
Anschläge, Affichen und Reklame
Es hat Zeiten gegeben, da bedeutete das Wort »Anschlag« nicht mehr als eine öffentliche Bekanntmachung in schriftlicher Form. Anschläge waren schon im antiken Athen und in Rom bekannt, wo man Gesetze und Senatsbeschlüsse in Tafeln aus Marmor oder Metall schlug und diese dann auf den öffentlichen Plätzen ausstellte. Das setzt natürlich voraus, dass die Adressaten auch lesen können, aber bei den Freien – und nur die gingen die Anschläge ja etwas an – war das in aller Regel gegeben.
Mit der Erfindung des Papiers wurden Plakate auch zu weniger gewichtigen Zwecken verfertigt. In Rom der Renaissancezeit zum Beispiel wurden über deftig-witzige oder satirische Plakate öffentliche Meinungskriege geführt, und in Deutschland beförderten bebilderte Plakate und Flugblätter die Reformation.
In den Jahrhunderten danach nahm die Verbreitung von Anschlägen vor allem durch die wichtiger werdende Reklame immer mehr zu. Gleichzeitig wurden die Flächen knapp, an denen man Anschläge anbringen konnte. Nach dem französischen Wort für »ankleben« nannte man die Anschläge bis weit in das 19. Jahrhundert hinein »Affichen« – und sie wurden wirklich überall affichiert. An Hauswänden, an Toren und Bäumen, an jeder glatten Fläche klebten sie, wild durch- und übereinander. Auch die Regelungen der Behörden – jeder Zettel brauchte eine Genehmigung, und selbstverständlich wurde eine Affichengebühr erhoben – konnte daran nicht viel ändern. An vielen Stellen sah es aus wie noch heute am Schwarzen Brett einer Universität: chaotisch.
Immerhin hatten die Regelungen wenigstens eine gewisse Einheitlichkeit bewirkt: In Berlin zum Beispiel mussten alle Anschläge mit Veröffentlichungen der Verwaltungsbehörden auf rotem Papier gedruckt sein, sodass man wichtige (also die roten) und weniger wichtige Anschläge (alle anderen) leicht unterscheiden konnte.
In der Mitte des 19. Jahrhunderts nahm das Durcheinander dann aber Formen an, welche die Behörden nicht mehr ruhen ließ. In England und in Frankreich errichteten die Städte große Säulen an den Straßen und verpachteten sie. Einziger Zweck dieser Säulen war es, daran Affichen anzubringen. Im Englischen nennt man sie schlicht und einfach advertising column, also »Anschlagsäule«, oder wie in Frankreich nach ihrem Erfinder Morris column (frz. Colonne Morris), zu deutsch »Morris-Säule«.
Die Idee dieser Säulen gefiel auch dem Berliner Drucker Ernst Litfaß, und er beantragte die Genehmigung, ebenfalls solche Anschlagflächen zu errichten. Am 5. Dezember 1854 schloss er mit dem Polizeipräsidenten Karl-Ludwig von Hinkeldey den entsprechenden Vertrag über »öffentlichen Zettelaushang« an Säulen und Brunneneinfassungen. Reichlich ein halbes Jahr später wurde die erste dieser sogenannten Annoncier-Säulen aufgestellt. Schon bald aber setzte sich in ganz Deutschland die Bezeichnung »Litfaß-Säule« durch.
Von Anfang an war die wichtigste Anschlagart auf diesen Säulen das Reklameplakat, öffentliche Bekanntmachungen hatten zwar Vorrang, waren aber selten. Und die Gewerbetreibenden erkannten rasch, wie wichtig es ist, im öffentlichen Raum durch Reklame präsent zu sein. Vor rund hundert Jahren erkannte man einen noch heute gültigen Grundsatz der Werbung: Reklame allein nicht reicht aus, um die Aufmerksamkeit zu fesseln – man muss einen »Zusatznutzen« bieten. Darum wurden die Anschläge an den Säulen auch um gemeinnützige Zwecke erweitert: Die in Berlin erstmals aufgestellten Urania-Säulen – benannt nach Urania, der Muse der Wissenschaft – trugen neben den Reklameanschlägen auch öffentliche Uhren oder Wetterinformationen.
Das genaue Aussehen der Litfaß-Säulen hat sich mit den Jahren gewandelt. Geblieben ist nur die Größe, üblicherweise 2,20 bis 3,60 Meter Höhe und ein Umfang von 3,20 bis 3,60 Meter. Anfangs waren die Säulen aus Holz gefertigt, später auch gemauert; heute werden sie üblicherweise in Beton oder als Metallkonstruktion ausgeführt. In der Kaiserzeit mehr oder weniger dezent verziert mit gusseisernen Elementen, änderte sich das Design der Säulen nach dem Zweiten Weltkrieg in Richtung Funktionalismus. Heute sind Litfaß-Säulen, wo es sie noch gibt, wieder etwas geschmückt. Teilweise tragen sie sogar eine Innenbeleuchtung, um die angebrachten Plakate besser zur Geltung zu bringen.
Nach den neuesten Konzepten der Stadtmöblierung und unter dem besonderen Aspekt des »Zusatznutzens« wird sogar das Innenleben der Litfaß-Säulen genutzt: Wenn man nämlich vom runden Querschnitt abweicht und den Grundriss ins Ovale erweitert, kann man im Inneren eine automatische, selbst reinigende Toilettenanlage unterbringen. Und die Benutzer mit weiteren Affichen bedienen, denen sie während der Sitzung nicht ausweichen können.
Carsten Heinisch
geschrieben für »Rück-Blicke« (Deutsche Welle) 2001, aktualisiert Dezember 2009
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Quelle: Wikimedia Commons