4. Juli 1913: Patent auf einen Produktionsprozess von PVC
Ein Wegbereiter des Kunststoffzeitalters
Wer war Fritz Klatte? In einigen wenigen Quellen wird er als »Wegbereiter des Kunststoffzeitalters« gerühmt, aber seine Biografie und seine Leistungen bleiben im Dunkel. Die Brockhaus-Enzyklopädie kennt ihn gar nicht, die Wikipedia weiß nur wenig, und selbst im mehrbändigen Deutschen Biografischen Lexikon sind nur einige wenige Zeilen über ihn enthalten. Wer also war Fritz Klatte?
In einer heimatkundlichen Chronik der norddeutschen Stadt Diepholz findet man weiterführende Informationen. Hier wurde Fritz Klatte 1880 geboren, und hier lernte er nach seiner Schulzeit Apothekengehilfe. Nach seinen Lehr- und Wanderjahren studierte er zunächst Pharmazie, dann Chemie. 1908 begann er, frisch promoviert, als Forschungschemiker in einem Industrielabor. Und dort machte er eine Erfindung, die unser aller Leben in mannigfacher Beziehung geändert hat: Er erfand einen Produktionsprozess für den heute massenmäßig wichtigsten Kunststoff der Welt, das Polyvinylchlorid, kurz PVC. (Der Ordnung halber sei erwähnt, dass PVC schon 1835 von dem Franzosen Henri Victor Regnault hergestellt wurde, ohne dass man die Bedeutung des Stoffs erkannte.)
Klatte ging bei seinen Arbeiten von einer Untersuchung des Gases Acetylen aus. Heute ist Acetylen fast nur noch als Schweißgas bekannt, damals war es ein wichtiger Grundstoff der technischen Chemie. Wissenschaftlich und wirtschaftlich interessant wurden Klattes Arbeiten, als ihm am 4. Juli 1913 das Patent auf ein »Verfahren zur Herstellung technisch wertvoller Produkte aus Vinylestern«zugesprochen wurde. Mit diesem Patent begann das Kunststoffzeitalter: Es beschreibt erstmals die Erzeugung von neuen Materialien aus voll synthetischen Rohstoffen. So bildet sich aus den Ausgangsgasen Acetylen und Chlor die Substanz Vinylchlorid, und daraus entsteht durch Polymerisation das Polyvinylchlorid, das PVC.
Doch obwohl dieser Stoff schon während des Ersten Weltkriegs in mehreren Dutzend Tonnen pro Jahr hergestellt wurde und Klatte schon in seiner Patentschrift verschiedene Anwendungsmöglichkeiten genannt hatte, war PVC damals noch nicht der Kunststoff mit seinen vielseitigen Eigenschaften, als den wir ihn heute kennen. PVC wurde damals vielmehr eingesetzt, um das Chlorgas zu entsorgen, das bei der Herstellung des wichtigen technischen Grundstoffs Natronlauge entsteht.
Heute spielt die Entsorgung von Chlor keine Rolle mehr, im Gegenteil erzeugt man heute Chlor, um PVC herzustellen. Darauf geht sein schlechter Ruf zurück, denn bei der Verbrennung von PVC wird das ätzende Chlorgas wieder frei, und auch das Supergift Dioxin kann dabei entstehen. Und die Stoffe, die man der Rohmasse zusetzen muss, damit sie sich leichter verarbeiten lässt und der fertige Kunststoff elastischer wird, enthalten oft die ökologisch nicht unbedenklichen Schwermetalle. Davon abgesehen, hat PVC aber viele günstige Eigenschaften, und vor allem: Es ist billig. Nicht zuletzt deshalb werden weltweit jährlich rund 18 Millionen Tonnen PVC hergestellt und zu Hunderten von Produkten verarbeitet, vom Fensterrahmen bis zu Verpackungsfolien.
Diesen Aufstieg des PVC zum Massenkunststoff hat Fritz Klatte aber nicht mehr erlebt. 1917 erkrankte er an Tuberkulose und verbrachte mehrere Jahre in verschiedenen Lungensanatorien. In den Wirren der Nachkriegszeit verfolgte sein Unternehmen die Arbeiten an den Kunststoffen nicht weiter, die Patente verfielen. Ab 1930 verschlechterte sich Klattes Gesundheitszustand immer mehr. Er starb 1934 in einem Sanatorium bei Klagenfurt.
Und während PVC sich immer weiter in unserer Welt verbreitete, geriet sein Wegbereiter Fritz Klatte in Vergessenheit. Erst spät würdigte man ihn als »Pionier der Kunststoffchemie« mit einer Gedenktafel an seinem Geburtshaus. Die Tafel besteht, wie könnte es anders sein, aus PVC.
Carsten Heinisch
geschrieben für »Rück-Blicke« (Deutsche Welle) 2001, aktualisiert November 2009
Bilder gemeinfrei. Portrait: Deutsches Kunststoff-Museum, Formel: Wikimedia Commons