13. Oktober 1961: Das Ampelmännchen wird erfunden
Das Kult-Männchen
Wohl jedem, der die »DDR« besuchen musste, sind deren Fußgängerampeln erinnerlich. Die Figuren unterschieden sich erheblich von denen in Deutschland. Sie zeigten ungesunde Korpulenz (Gemüsemangel) und trugen Herrenhüte, welche Honeckers Staatsvolk in den HO- und Konsument-Geschäften wohl vergeblich suchte. Das grüne Männchen raste in sklavischer Hast: Dawai, dawai! Das rote breitete autoritär die Arme: Halt! Stehenbleiben! Die Piktogramme des Westens hingegen atmen zivile Selbstverständlichkeit.
Dieser Text, der 1996 in der Wochenzeitung »Die Zeit« erschien, trieft von bitterer Ironie. Wahrscheinlich konnte man als Ostdeutscher nur sarkastisch werden, denn damals wurde alles, was DDR war oder auch nur danach aussah, »abgewickelt«. Und das mit penetranter Rechthaberei. Ganze Wälder von Verkehrsschildern etwa wurden ausgetauscht, nur weil sie in einer anderen als der westdeutschen Schrifttype geschrieben waren.
Dass es auch dem Ampelmännchen an den Kragen gehen sollte, hängt mit seiner Herkunft zusammen. Sein Erfinder, der Verkehrspsychologe Karl Peglau, arbeitete nämlich in Ostberlin. Und dort reichte er am 13. Oktober 1961 ein Diskussionspapier bei der Verkehrskommission ein. Neben vielen Anregungen zur Verbesserung der bestehenden Ampeln, die sich nicht durchgesetzt haben, taucht dort zum ersten Mal auch das Ampelmännchen auf.
Man sieht es den knubbelig gestalteten Männchen nicht an, doch ihre Gestaltung ist technisch und psychologisch gut begründet. Technisch, weil die Männchen eine fast doppelt so große Leuchtfläche haben wie konkurrierende Entwürfe und sie damit besser zu sehen sind. Psychologisch, weil die Aufforderungen auch für Kinder oder Behinderte gut verständlich sind. So signalisiert das rote Männchen mit seinen ausgebreiteten Armen viel deutlicher ein »Halt« als der etwa zur gleichen Zeit im Westen Deutschlands entstandene Entwurf.
Nach einem mehreren Jahre dauernden Prüf- und Genehmigungsprozess wurden Peglaus Ampelmännchen Mitte der 1960er Jahre in der DDR installiert. Und sie kamen bei den Fußgängern gut an. So gut, dass der rote und der grüne Ampelmann sogar zu Filmstars wurden: Die DEFA produzierte ab 1982 mehrere Dutzend Kurzfilme zur Verkehrserziehung für Kinder, in denen die beiden Ampelmänner als Zeichentrickfiguren den Kindern in schwierigen Situationen beistanden: »Halt mein Junge, halte an, ruft der rote Ampelmann« – diesen Spruch hat in der damaligen DDR wahrscheinlich jedes Schulkind im Schlaf herbeten können.
Zu bundesweiter Bekanntheit und zum Status als Kultfigur kam das Ampelmännchen aber erst in der Nachwendezeit. Eben weil es ein solcher Sympathieträger war, konnte es zur Symbolfigur für die »Ostalgie« werden. Zusätzliche Popularität erlangte das Männchen, als ein geschäftstüchtiger Designer sich die Markenrechte an dem Entwurf sicherte und eine ganze Palette von Leuchten, Dekoelementen und Schnickschnack in Ampelmännchenform auf den Markt brachte.
Die ideologische Verblendung, wie sie in dem eingangs zitierten Zeit-Artikel karikiert wurde, ist mittlerweile abgeklungen. Die »Richtlinien für Lichtsignalanlagen« sehen zwar immer noch das knochige DIN-Männchen als Standardsymbol an Fußgängerampeln vor, doch alternativ ist auch das korpulente Ost-Männchen zugelassen. Vor allem im Osten Deutschlands weist es wieder oder immer noch den Fußgängern ihren Weg, und auch immer mehr westdeutsche Kommunen verwenden es. Vielleicht wächst ja doch zusammen, was zusammen gehört?
Carsten Heinisch
geschrieben für »SWR2 Zeitwort« 2012
Der eingangs zitierte Text von Christoph Dieckmann stammt aus der »Zeit« 35/1996.
Grafik von Karl Peglau, digitalisiert von Matthew Gates, Quelle: Wikimedia Commons