2. September 1874: Der Tod von Winnetou

Winnetou darf nicht sterben

Winnetou

Winnetou im 1904 entstandenen Umschlagentwurf des Malers Sascha Schneider.

Karl May hat alles, was er in seinen Romanen erzählt, wirklich erlebt – das behauptete er jedenfalls. Der junge Landvermesser Karl will im Auftrag eines Eisenbahnunternehmens im Wilden Westen unterwegs gewesen sein, ein Greenhorn, wie es im Buche steht; später erwarb er sich dank seiner besonderen Kampftechnik den Ehrennamen »Old Shatterhand«. Bei Vermessungsarbeiten für die Eisenbahntrasse trifft er zum ersten Mal auf den jungen Indianer, der zusammen mit seinem Vater die Rechtmäßigkeit der Vermessung in Frage stellt:

… er trug den Kopf unbedeckt und hatte das Haar zu einem Schopfe aufgewunden, aber ohne es mit einer Feder zu schmücken. … Sein Gesicht war fast noch edler als dasjenige seines Vaters und die Farbe desselben ein mattes Hellbraun mit einem leisen Bronzehauch. Er stand, wie ich jetzt erriet und später dann erfuhr, mit mir in gleichem Alter und machte gleich heut, wo ich ihn zum erstenmal erblickte, einen tiefen Eindruck auf mich.

So wird der junge Häuptlingssohn Winnetou bei seinem ersten Auftreten im 1893 erschienenen ersten Band der gleichnamigen Reihe beschrieben. Leider war Karl Mays Arbeitsweise etwas ungeordnet, viele seiner Abenteuer erschienen zuerst als Fortsetzungsgeschichten in Zeitungen. Dadurch kommt es immer wieder zu Widersprüchen sowohl in der zeitlichen Abfolge als auch in der Charakterisierung. Bei seinem allerersten Auftreten in einer Erzählung von 1875 war Winnetou war nämlich noch ein schon etwas älterer Wilder, der seine Feinde skrupellos skalpierte und auch schon mal einen Zigarrenstummel aß.

Aus den Büchern lässt sich also leider keine verlässliche Chronologie ableiten. Doch Karl May selbst hat sich seinen Verehrern gegenüber geäußert. Einer Leserin, die nach biografischen Angaben gefragt hatte, schickte er 1899 eine Postkarte:

»Winnetou war geboren 1840 und wurde erschossen am 2./9.1874. Er war noch herrlicher, als ich ihn beschreiben kann!«

Das Todesdatum, den 2. September 1874, hat Karl May auch anderen Lesern bestätigt. Es sei aber nicht verschwiegen, dass er bei anderer Gelegenheit auch den 21. Februar, allerdings ohne Jahr, genannt hat.

Vielleicht hängen die inneren Widersprüche damit zusammen, dass Karl May seinen Winnetou im Lauf der Jahre immer mehr zur Projektionsfläche für den »Edlen Wilden« machte; in seinen letzten Lebensjahren gab er sogar die Fiktion der realen Person »Winnetou« auf und erklärte ihn zu einer Allegorie auf den Indianer schlechthin.

Noch im Tod ist Winnetou eine Projektion des Exotismus, ein Bild des guten und letztlich bekehrten Wilden. In dem Band Winnetou III wird er von Banditen am Hancockberg angeschossen. Der Kampf geht siegreich zu Ende, doch Winnetou ist tödlich verwundet. Sein Blutsbruder Old Shatterhand hält ihn im Schoß, die Mitkämpfer stehen im Kreis um sie herum.

»Hat mein Bruder noch einen Wunsch?« fragte ich ihn.

Etliche Zeilen weiter die Antwort:

»Winnetou bittet sie, ihm das Lied von der Königin des Himmels zu singen!«

Und die Männer singen ein Ave Maria, das in vollen drei Strophen ausgebreitet wird.

Als der letzte Ton verklungen war, wollte er sprechen – es ging nicht mehr. Ich brachte mein Ohr ganz nahe an seinen Mund, und mit der letzten Anstrengung der schwindenden Kräfte flüsterte er:

»Schar-lih, ich glaube an den Heiland. Winnetou ist ein Christ. Lebe wohl!«

Carsten Heinisch
geschrieben für »Zeitwort« (SWR2) 2011

Bild gemeinfrei, Quelle Wikimedia Commons.